Im Januar 2024 hat die Orchestergewerkschaft unisono (früher DOV) ihre lang ersehnte Aushilfenampel veröffentlicht. An dieser soll man ablesen können, welche Orchester angemessene Honorare für freie Musiker*innen – sogenannte Aushilfen – zahlen. Das Ergebnis ist ernüchternd – die Reaktion der Orchester auch.
Ich habe viele Jahre als freier Harfenist in verschiedenen Orchesterkonzerten und Opernaufführungen mitgewirkt. Angefangen habe ich als Student – in einer Zeit, in der man von 600 € im Monat in Weimar noch gut leben konnte. Da kamen mir die 500 €, die ich in einer Woche bei den Thüringer Symphonikern Saalfeld-Rudolstadt verdiente, enorm viel vor. 60 € gab es für eine Probe, 90 € für ein Konzert. Nun gut, bei den Fahrtkosten gab es immer Theater, zum Beispiel habe ich mich schon damals gefragt, warum das Orchester eigentlich selbstverständlich davon ausgeht, dass ich eine Bahncard 50 besitze. Aber egal – als Student war das ein wahrer Geldsegen!
Das ist jetzt über zehn Jahre her und mittlerweile haben sich die Zeiten geändert – nur in Rudolstadt scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Denn laut Aushilfenampel der Orchestergewerkschaft unisono zahlen die Thüringer Symphoniker (Stand April 2024) immer noch 60 € für eine Probe und 90 € für ein Konzert. Berechnet man die Inflation mit ein, ergibt das ein Minus von über 20 % – und ich gehe davon aus, dass die Sätze nicht erst seit meinem ersten Engagement dort auf diesem Niveau verharren. Als ich das gesehen habe, ist mir die Spucke weggeblieben.
Doch Rudolstadt ist in guter Gesellschaft: Gerade einmal elf Orchester in Deutschland erreichen eine grüne Wertung in der Aushilfenampel, was bedeutet, dass die Gagen den aktuellen unisono-Empfehlungen entsprechen. 62 Orchester erhalten eine gelbe Wertung; sie liegen zwischen 10 % und 30 % unter diesen Empfehlung. Wer mehr als 30 % darunter liegt, erhält eine rote Wertung – dies trifft auf 51 Orchester zu. Für weitere zwölf Orchester liegen keine Werte vor. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Nicht einmal jedes zehnte Orchester im „Orchesterland Deutschland“ zahlt angemessene Honorare für Orchesteraushilfen.
Aber sprechen wir doch mal über die unisono-Empfehlungen. Besucht man die unisono-Homepage, erscheinen zunächst die Mindesthonorare für freie Musikprojekte. Die liegen momentan bei 135 € für eine Probe und 265 € für Konzerte bzw. als Tagessatz. Perspektivisch sollen die Honorare auf 675 € Tagessatz steigen (also zweieinhalb Mal so viel!), so wie es der Deutsche Musikrat empfiehlt. Wer jetzt Dollar-Zeichen in den Augen bekommt, sollte allerdings etwas weiter herunterscrollen. Denn dort stehen die Empfehlungen für (Berufs-)Orchester und Rundfunkchöre. Und die sehen plötzlich ganz anders aus: Für eine Probe soll man je nach Orchester zwischen 110 € und 160 € bekommen, für eine Aufführung 165 € bis 240 €. Man bekommt also selbst im besten Fall bei einem Profiorchester für eine Aufführung weniger als bei einem freien Projekt. Eine perspektivische Erhöhung wird hier nicht erwähnt, es wird lediglich auf die Anpassungen des Tarifvertrags verwiesen. Aber selbst wenn die Honorare in Zukunft mit den Tariferhöhungen steigen werden: Ein Plus von 250 %, das bei freien Projekten ja bis 2025 irgendwie vom Himmel fallen soll, wird so eher nicht erreicht werden.
Ich habe mich ehrlich gesagt in meiner aktiven Zeit als Orchesteraushilfe wenig um diese Honorarempfehlungen gekümmert. Das hatte mehrere Gründe: Erstens sind es eben nur Empfehlungen, die auf Freiwilligkeit der Orchester beruhen. Wie weit her es mit dieser Freiwilligkeit ist, zeigt ja sehr schön die Aushilfenampel. Zweitens hat es aus meiner Sicht als Aushilfe gar keinen Sinn gehabt, mit diesen Empfehlungen an die Orchester heranzutreten. Denn dort bekommt man immer die gleiche Antwort: Wir haben kein Geld, um höhere Honorare zu zahlen. Und drittens fand ich die unisono-Empfehlungen immer sehr verwirrend. Es konnte mir zum Beispiel noch niemand erklären, warum es für Berufsorchester und freie Projekte unterschiedliche Empfehlungen gibt. Wenn überhaupt könnte ich verstehen, wenn es bei Berufsorchestern mehr Geld gibt (Prestige und so). Aber warum eigentlich gilt der vom Deutschen Musikrat ausgegebene Tagessatz von 675 € nicht für Berufsorchester? Und wenn unisono sagt, die Honorare für freie Projekte seien die absolute Untergrenze, was sind dann die niedrigeren Sätze für Berufsorchester? Die Unter-Untergrenze?
Noch beschämender als die nackten Zahlen finde ich aber die Reaktion der Orchester. Die Musikjournalistin Hannah Schmidt hat im VAN-Magazin über die Aushilfenampel berichtet und exemplarisch die Berliner Orchester dazu befragt. In Berlin ist die Lage besonders dramatisch: Von den gelisteten Orchestern erreicht aktuell (April 2024) keines eine grüne Wertung, obwohl dort so klangvolle Namen wie die Berliner Philharmoniker (Gelb) oder die Komische Oper (Rot) vertreten sind. Im Zuge ihrer Recherche hat sie die Orchester um eine Stellungnahme gebeten. Die Orchester haben sich natürlich wieder herausgeredet: Die meisten Aushilfen seien ja sowieso bei anderen Orchestern angestellt, da sei es nicht so wichtig, wie viel sie als Aushilfe verdienen.
Abgesehen davon, dass es nie gut ist, Menschen schlecht zu bezahlen, ärgert mich das aus zwei Gründen: Erstens weisen die Orchester die Verantwortung für ihre (temporären) Mitarbeiter*innen pauschal von sich, obwohl dies ja gar nicht auf alle Aushilfen zutrifft. Aber der zweite Grund ist für mich viel gravierender: Unabhängig davon, wie knapp mein Geld bemessen ist, kann ich in keiner anderen Branche der Welt Waren oder Dienstleistungen kaufen, wenn ich sie mir nicht leisten kann. Das funktioniert nur in einer kaputten Branche, in der sich manche auf Kosten anderer bereichern. Die Orchester tun aber genau das: Sie wollen eine Dienstleistung haben, für die ihnen eigentlich das Geld fehlt. Dann verkaufen sie ein Hochglanzprodukt (nämlich ein Konzert, in dem alle Musiker*innen fein im Frack herausgeputzt auf der Bühne stehen), und erwähnen mit keinem Wort, dass viele der Musiker*innen von ihrem Honorar kaum ihre Miete bezahlen könnten.
Dass die Orchester kein Problem mit einer kaputten Musikbranche haben, finde ich schon lange mehr als seltsam und aus ökonomischer Sicht kurzsichtig. Aber ich finde es auch moralisch schwierig, denn dem Publikum fällt in der Regel nicht auf, wie viele Aushilfen auf der Bühne sitzen. Es gibt also für sie kaum eine Möglichkeit, die Qualität des Produktes, das sie gekauft haben, und die Arbeitsbedingungen, unter denen es entstanden ist, zu überprüfen. Ich würde diesen Leuten gerne empfehlen, mal einen Blick in die Aushilfenampel zu werfen und beim nächsten Konzertbesuch darauf zu achten, nur solche Orchester anzuhören, die eine grüne Wertung erhalten haben. Ein kleiner Haken dabei: Dann können die Musikfreund*innen aus Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Thüringen eben in nächster Zeit nicht in den Genuss eines fairen klassischen Live-Konzerts kommen. In diesen Bundesländern gibt es leider kein einziges Orchester, dass seine Aushilfen anständig bezahlt.
Im VAN-Artikel wurde auch gefragt, was die Orchester bräuchten, um die unisono-Sätze zu bezahlen. Hier wird das ganze für mich zum Skandal: Auf diese Frage hat nämlich kein Berliner Orchester geantwortet. Es wäre für die Orchester ein leichtes gewesen, hier auf die Politik, die Geldgeber*innen und die Gewerkschaften zu schimpfen. Ich kann das Schweigen nur so verstehen, dass es von Seiten der Orchester keinerlei Interesse gibt, auf absehbare Zeit etwas an den Honoraren zu ändern. Und warum auch? Anders als beispielsweise beim Mindestlohn sind die unisono-Sätze reine Empfehlungen. Eine Nichteinhaltung hat keine Konsequenzen, der Markt ist mit freien Musiker*innen übersättigt. Schon alleine die Studierenden der Musikhochschulen werden immer bereit sein, sich im Studium was dazuzuverdienen. So war es für mich damals ja auch. Wer nicht zu diesen Honoraren spielen will, kann sich eigentlich nur aus der Branche zurückziehen. Dann würde irgendwann der Aushilfenmarkt zusammenbrechen und die Orchester wären endlich gezwungen, sich ernsthaft mit der Situation auseinanderzusetzen. Eine Änderung auf anderem Wege ist meiner Meinung nach jedenfalls nicht in Sicht – nicht, solange fast alle deutschen Orchester kein Problem damit haben, Aushilfshonorare unterhalb der Unter-Untergrenze zu zahlen.
1 Comment
Wie großartig, dass ihr euren Blog wiederbelebt habt!
Zum Thema: auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich, was die Honorare angeht, in der Kunst- und Kulturszene in den letzten Jahren erschreckend wenig geändert hat. Corona hat ein kurzes Schlaglicht auf die teilweise dramatische Situation der freien Kulturschaffenden geworfen, aber das ist mittlerweile auch wieder versickert, es läuft ja wieder alles. Irgendwie. Das Problem ist, dass es in dieser Branche keine wirklich verbindlichen Richtlinien gibt und so etwas wie Mindestlohn zugegebenermaßen schwer zu berechnen ist. Empfehlungen kosten nichts (sic!) und, da hast du Recht, es gibt einfach Zuviele, die bereit sind, zu Dumpingpreisen zu arbeiten.
Vielleicht sollte man, wie bei Schokolade oder Kleidung, ein Fairtradelabel einführen, das bei jedem Ticketkauf sichtbar wird. Das würde auf jeden Fall das Problem stärker ins Bewußtsein des Publikums rücken (dem die Problematik wahrscheinlich gar nicht bewußt ist!). Ob das zu einem Umdenken führt wage ich nicht zu hoffen, aber ein Versuch wäre es.