Insgesamt drei Mal bedrängte Siegfried Mauser Maria Collien in seinem Büro. Ihre Aussage als Nebenklägerin sorgte dafür, dass der ehemalige Präsident der Musikhochschule München wegen sexueller Nötigung verurteilt wurde. Wir haben sie in Berlin getroffen und über sie, ihr Leben und das, was damals wirklich im Präsidentenbüro geschehen ist, gesprochen.
In der Berichterstattung über Gerichtsurteile ist bei Namensnennung der Beteiligten immer zwischen dem Persönlichkeitsrecht und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit abzuwägen. Wir haben uns dazu entschlossen, die Namen der Beteiligten in diesem Artikel zu nennen, da wir der Meinung sind, dass das öffentliche Interesse in diesem Fall sehr groß ist. Dies begründen wir wie folgt:
- Die Nebenklägerin Maria Collien, um die es in diesem Artikel hauptsächlich geht, haben wir persönlich getroffen. Sie hat ihr Einverständnis gegeben, dass wir ihren Namen nennen. Wir möchten darauf hinweisen, dass der Name „Maria Collien“ lediglich ihr Künstlername ist, unter dem sie in der Musikszene allerdings hinlänglich bekannt ist. In der Urteilsbegründung wird sie als „Frau A.“ erwähnt.
- Persönlichkeitsrechte sind wichtig, um während eines Gerichtsprozesses die Unschuldsvermutung aufrecht zu erhalten und die Resozialisierung eines Täters nicht zu behindern. Die Unschuldsvermutung gilt aber nur, bis ein Urteil gefällt ist und rechtskräftig wird. Dies ist bei Siegfried Mauser der Fall. Für die gesellschaftliche Wiedereingliederung ist aber Voraussetzung, dass ein Täter Reue zeigt, evtl. Wiedergutmachung leistet und seine Strafe verbüßt. All das ist im Fall Mauser bislang nicht geschehen.
- Seit Beginn der Gerichtsprozesse gegen ihn hat Mauser immer wieder die Öffentlichkeit gesucht (beispielsweise durch Zeitungsinterviews oder den Auftritt in Fernsehbeiträgen), um seine Version der Geschichte zu verbreiten. Außerdem haben sich seine Freunde und Bekannte ebenfalls öffentlich geäußert (beispielsweise durch die Festschrift zu Mausers 65. Geburtstag).Wir gehen also davon aus, dass Mauser eine öffentliche Auseinandersetzung mit seinen Taten grundsätzlich anstrebt.
- Siegfried Mausers Bekanntheit und sein Einfluss erstrecken sich weit über die Klassische Musikszene hinaus. Seine früheren Tätigkeiten als Präsident der Musikhochschule München, des Mozarteums Salzburg und als einer der Direktoren der Bayerischen Akademie der Schönen Künste sind mit großem Prestige verbunden gewesen. Durch diese Tätigkeiten allein besteht unserer Meinung nach ein öffentliches Interesse an seiner Person, zumal die Taten, aufgrund derer er verurteilt wurde, größtenteils in den Räumen der Musikhochschule München stattgefunden haben und seine starke Machtposition dort bei den Taten mutmaßlich eine große Rolle spielte.
- In den vergangenen Monaten wurden in verschiedenen Medien immer wieder Details aus den Gerichtsprozessen genannt. In der Süddeutschen Zeitung wurde am 09.10.2019 auch auf das Aktenzeichen des BGH-Urteils verwiesen. Mit diesem Aktenzeichen kann jede(r) in der öffentlichen Datenbank des BGH nach den Details der Urteilsbegründung suchen. Die Zitate daraus, die wir in diesem Blogbeitrag verwenden, sind also öffentlich zugänglich gewesen; uns lagen keine weiteren Quellen vor.
- Das öffentliche Interesse wird noch dadurch verstärkt, dass es sich bei Siegfried Mauser um eine wichtige Figur in der #metoo-Debatte handelt. Die rechtskräftige Verurteilung eines Täters ist ein richtungsweisendes Signal an Opfer sexueller Übergriffe, dass vor Gericht Gerechtigkeit erreicht werden kann. Dazu ist es unserer Meinung nach wichtig, dass die Taten und die Umstände der Taten so detailliert wie möglich genannt werden, damit andere Betroffene ihre eigene Vorgehensweise abwägen können. Außerdem kommt dem Fall eine besondere Bedeutung zu, da das Verhalten Mausers, seiner Anwälte und seines Umfelds exemplarisch dafür steht, welche Verteidigungsstrategien ein(e) prominente(r) TäterIn wählen kann. In unseren Augen steht die #metoo-Bewegung dafür, dass niemand über dem Gesetz stehen sollte. Wer Straftaten verübt, sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden – unabhängig von finanziellem Vermögen oder künstlerischer Leistung.
Wir sind ziemlich müde und auch etwas verkatert, als wir am Montagmorgen gegen 9:30 Uhr das kleine Café in Berlin-Schöneberg betreten. Schon die Milonga am Samstag dauerte bis 1 Uhr nachts, und nach dem Konzert am Sonntag haben wir noch angestoßen und gefeiert.
Im Café wartet Maria Collien auf uns. Wir haben sie nach dem Konzert schon kurz gesehen, doch weil wie immer viele Menschen aus dem Publikum Fragen zu unserer Musik und vor allem zu den Instrumenten hatten, haben wir nur kurz Hallo gesagt und sie auf den nächsten Morgen vertröstet. Geplant hatten wir ein Treffen mit ihr schon seit vielen Monaten, doch der Gerichtsprozess war zu kraftraubend für sie. Erst jetzt, nachdem die Revision vor dem Bundesgerichtshof durch ist und Siegfried Mauser für 2 Jahre und 9 Monate ins Gefängnis muss, konnte sie ein Treffen einrichten. Und dann kommt sie direkt von München nach Berlin! Nur um unser Konzert zu hören und uns zu treffen!
Und da sitzt sie nun. Die Frau, die einen kräftezehrenden Gerichtsprozess gegen einen der einflussreichsten Musiker Deutschlands auf sich genommen hat. Unscheinbar auf den ersten Blick, doch als sie uns ansieht, merken wir sofort, was für einen Willen sie ausstrahlt. Sie lacht und deutet auf die Zeitung, die aufgeschlagen neben ihr liegt. ‚Mit Sigi in die Unterwelt‘, der Artikel aus der ZEIT über Mauser und die Akademie der schönen Künste. „Da wären wir ja direkt beim Thema!“, sagt sie.
Wir umarmen uns zur Begrüßung. Ist das schon zu viel, zu intim? Immerhin, darum geht es schließlich bei der ganzen Sache: Um zu viel und vor allem ungewollte Nähe. Doch unsere Sorge ist offensichtlich unbegründet. Und eigentlich wäre es ja auch bescheuert: Eine herzliche Begrüßung ist noch kein sexueller Übergriff, auch wenn einige Unbelehrbare die #metoo-Bewegung so diskreditieren wollen. Natürlich können Männer und Frauen ganz normal, respektvoll – und ja, auch intim – miteinander umgehen!
Maria Collien ist ein Mensch, mit dem man schnell ins Plaudern gerät. Wir sprechen über unser Konzert, über den unmenschlichen Berliner Straßenverkehr, über dies und das. Wir bestellen Kaffee und Frühstück und haben sofort das Gefühl, dass wir auf einer Wellenlänge sind. „Aber dafür sind wir ja eigentlich gar nicht hier“, sagt sie. Und dann erzählt sie.
Von Regensburg auf die Opernbühne
Schon nach wenigen Sätzen merken wir, dass wir bisher in einer behüteten Parallelwelt aufgewachsen sind. Die kleinen und großen Ärgernisse, die uns in unserem Studium und später im Beruf passiert sind, wirken plötzlich so unbedeutend, wenn sie etwa über ihre frühere Zeit als Geigenlehrerin bei den Regensburger Domspatzen spricht: „Viele Kinder waren Bettnässer. Wenn man die Zimmer betrat, schlug einem sofort der Gestank von Urin entgegen. Immer wenn ich ins Internat kam, standen die Kinder am Zaun und warteten sehnsüchtig. Sie winkten mir von weitem zu, weil sie sich so freuten, endlich eine zugewandte und wohlwollende Person zu treffen. Wohlgemerkt war ich damals die einzige weibliche Lehrkraft in der Vorschulklasse der Domspatzen.“ Sie habe sogar überlegt, sich auch bei der Aufarbeitung dieses Skandals als Zeugin zu melden. Aber dann kam der Mauser-Prozess.
Doch zunächst erzählt sie uns von ihrem Debüt auf der Opernbühne, bzw. ihrem Nicht-Debüt: „Ich sollte die Hauptrolle in einer Opernproduktion singen. Die letzte BO lief super und das Ensemble wollte zusammen noch etwas essen gehen. Auch der Dirigent kam mit. Auf dem Weg sagte er, die anderen sollten schon einmal vorgehen, er habe noch etwas mit mir zu besprechen. Als wir außer Sichtweite waren packte er mich, zog mich in ein Gebüsch, und drückte mir seine Zunge in den Mund. Ich stieß ihn weg und schlug ihm ins Gesicht.“ Trotzdem ging sie anschließend zum gemeinsamen Abendessen mit den Kolleginnen und Kollegen. „Wie das war, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Es muss ja eine etwas komische Atmosphäre gewesen sein.“
Am nächsten Tag fand die Generalprobe statt – jedoch ohne Maria Collien. Angeblich beherrschte sie die Partie nicht. „Das wurde erst in der vorletzten Probe vor der Premiere bemerkt?“, fragt sie sarkastisch. Und so hatte man sich entschlossen, die Generalprobe und alle Aufführungen mit der Zweitbesetzung durchzuführen. „Dabei hatte die so gut wie nie geprobt, weil der Dirigent sie nicht gemocht hat und sie eigentlich auch nur die beiden letzten Aufführungen singen sollte.“ Das wollte Maria Collien nicht auf sich sitzen lassen. Sie benachrichtigte sofort ihre Agentur. Diese war keineswegs überrascht über den Vorfall; man ließ sie hinter vorgehaltener Hand wissen, dass der Dirigent dasselbe Spiel wohl auch schon mit einer anderen Sängerin gespielt habe. Sie rieten ihr, auf juristischem Wege ihre Auslagen für die Probenzeit einzufordern, da eine Kündigung aus künstlerischen Gründen nur innerhalb der ersten Probenwoche zulässig sei. Von einer Anzeige wegen des sexuellen Übergriffs sei jedoch abzuraten; dies sei nicht ‚zielführend‘. Die Intendanz bot sehr schnell einen Vergleich an, wahrscheinlich um einen Skandal zu vermeiden. Maria Collien erhielt allerdings nur eine Zahlung, um ihre Auslagen während der dreiwöchigen Probenzeit zu decken – und kein Honorar für ihre Arbeit. Von einer Anzeige bei der Polizei wegen des Übergriffs nahm sie Abstand, um nicht noch mehr ‚Lärm‘ zu machen. Dennoch reichte all das schon, um ihrer Karriere Schaden zuzufügen: „‚Wenn du das machst, wirst du nie wieder einen Fuß auf eine deutsche Opernbühne setzen‘, sagten meine Freunde. Sie hatten leider recht.“ Denn auch die zunächst zugesagte Solidarität seitens der Agentur verpuffte letztlich. „Als Arbeitsvermittler haben die nicht gerne Probleme mit den Theatern. Wer nicht devot ist, sondern das Klima des Theaterbetriebs belastet, wird eliminiert!“ Ihre Opernkarriere begann dann kurz darauf in Italien beim Spoleto-Festival.
Im Sumpf der Musikwelt
Wir sind bei weitem noch nicht bei Siegfried Mauser angekommen, als wir den zweiten Kaffee bestellen. Nicht nur deshalb ist unsere Müdigkeit mittlerweile verflogen. Das, was Maria Collien erzählt, ist aufwühlend, verstörend – und hochspannend. Wie beiläufig lässt sie immer wieder große Namen innerhalb und außerhalb der Musikszene fallen. Namen, die wir hier nicht nennen können, weil in unserer Gesellschaft immer noch die Opfer, die ihre Stimme erheben, wie Verbrecher behandelt werden, während die Täter nahezu ungehindert weitermachen können. Wobei der Begriff ‚Opfer‘ auf niemanden so schlecht passt, wie auf diese starke und selbstbewusste Frau, die uns da gegenübersitzt. Sie selbst vermeidet den Begriff, weil sie selbst über ihr Leben und ihre Rolle darin entscheiden will.
So auch damals, als ein anderer Dirigent sie auf eine Konzertreise mitnehmen wollte. „Gerede über ihn gab es natürlich. Ich musste einmal miterleben, wie er und ein sehr berühmter Regisseur einen ganzen Abend lang die schweinischsten Witze über Frauen rissen. Wirklich unterste Schublade!“ Ihr gegenüber hat er sich aber nichts zu Schulden kommen lassen: „Ich war wohl nicht sein Typ. Aber wer weiß, was passiert wäre, wenn ich ihm auf dieser Reise ausgeliefert gewesen wäre!“ Bei Übergriffen geht es schließlich selten um Sex und eine tatsächliche oder eingebildete erotische Anziehung, sondern um Macht. Sie nahm das Engagementsangebot nicht an, auch wenn das für ihre Karriere ein wichtiger Schritt gewesen wäre. Wahrscheinlich die richtige Wahl: Auch der Name dieses Mannes ging im Zuge der #metoo-Debatte durch die Schlagzeilen.
Die Übergriffe, die Maria Collien in ihrer Karriere erlebt hat, sind so zahlreich, dass uns bald der Kopf schwirrt. War es der Intendant, der sie bei der Premierenfeier küsste – in Anwesenheit seiner eigenen Ehefrau? Der, jedes Mal, wenn sie in der Aufführung die Bühne betrat, im Dunkeln wartete, um sie noch schnell festzuhalten und zu begrapschen? Oder war das doch der Star-Tenor, der Jahre später in höchsten Ehren zu Grabe getragen wurde? „Nein, bei der Premierenfeier war es ein Journalist! Bei den Aufführungen war es dann der Tenor“, korrigiert sie uns.
Was uns immer wieder auffällt: Wir kommen vielleicht durcheinander, sie dagegen vergisst nichts. Ihre Schilderungen sind klar und prägnant; sie erinnert sich an jedes Detail, jeden Namen, jede Operninszenierung. Alle Ereignisse sind in ihrem Gedächtnis gespeichert, nichts scheint vergessen. Es ist diese Akkuratesse, mit der sie das Gericht im Mauser-Prozess beeindruckt hat. „Was für ein Sumpf!“, keuchen wir irgendwann entsetzt. Maria Collien nickt nur.
„Beim nächsten Mal bekommst du dann eine große Rolle.“
In diesem Sumpf kommt alles zusammen: Machtmenschen, die sich am „Freiwild“ der jungen Sängerinnen und Musikerinnen bedienen, Stars, die nicht mehr zwischen der Bewunderung für ihre Kunst und ihre Person unterscheiden können, aber auch all die anderen, die im besten Fall nur zu- bzw. wegsehen und im schlimmsten Fall schauen, ob nicht etwas für sie abfällt. Dazu gehören auch die vielen Agenten und Manager, die ihre Schützlinge in dieses Haifischbecken werfen. „Ich habe viele Fälle von Korruption erlebt“, sagt Maria Collien.
„Ich war engagiert, die Fricka in ‚Rheingold‘ zu singen. Wotan, die männliche Hauptrolle, kam von einer Agentur, war aber nicht in der Lage, seine Partie zu bewältigen. Die Verantwortlichen entschieden sich, bei der Agentur nach einem anderen Sänger zu fragen. Die Agentur sagte: ‚Ja, wir haben noch einen anderen, aber nur, wenn ihr auch unsere Fricka nehmt.‘ Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu akzeptieren und mich gegen die neue Sängerin auszutauschen. Ich bekam eine kleinere Rolle in derselben Produktion. ‚Beim nächsten Mal bekommst du dann eine große Rolle‘, wurde mir versprochen. Solche Deals kommen häufiger vor, als man denkt.“ Als sie später beim Intendanten die größere Partie einforderte, vertröstete er sie nur. Eine Bekannte aus dem Theater gab ihr zu verstehen, dass sie ihm Geld hätte anbieten sollen. Das tat sie nicht – und das Versprechen wurde nie eingelöst.
Die berühmte Vetternwirtschaft – auch in der Musikwelt weit verbreitet. Wir haben selbst Wettbewerbe erlebt, bei denen bestimmte Teilnehmer mit hohen Punktzahlen und ersten Preisen verblüfft haben, weil zufällig ihr Professor in der Jury saß oder sie mit der Wettbewerbsleitung befreundet waren. Über solche Geschichten kann Maria Collien wohl nur hohl lachen. Bringen es in der Szene diejenigen am weitesten, die in ihrem Fach die besten sind? „Wohl eher die, die am devotesten sind. Und es ist natürlich viel Zufall dabei.“
Mittlerweile ist es fast Mittag, aber wir können jetzt nicht aufhören. Eigentlich haben wir noch einen anderen Termin. Am Nachmittag müssen wir außerdem weiterfahren. Laura nach Köln; dort warten ihre SchülerInnen. Daniel mit dem Auto voller Harfen und Gepäck nach Weimar, dort wartet liegengebliebene Büroarbeit. So sieht das Leben als Freiberufler aus. Es ist ein hohes Maß an Disziplin und Selbstmanagement nötig, wenn man von unserem Beruf leben will – außerhalb der Elite natürlich! Maria Collien kann das gut nachvollziehen. „Als im Prozess die Plädoyers beendet waren, bat Mauser darum, noch eine Frage an mich richten zu dürfen. Er sagte: ‚Du erzählst hier, ich hätte dein Leben ruiniert. Aber von den 800 € für den Lehrauftrag, da kann man doch gar nicht von leben!‘“ Doch für den Großteil der MusikerInnen sind 800 € der Unterschied, ob man seine Miete bezahlen kann oder nicht. „800 € machen einen nicht reich, aber arm“, sagt Maria Collien. Kann jemand mit dem Lebensstil eines Siegfried Mauser das vielleicht nicht mehr nachvollziehen? Auf uns wirkt es vor diesem Hintergrund schon zynisch, dass Mauser selbst gesagt hat, er sei durch die Gerichtsprozesse finanziell ruiniert. „Ich habe in meiner aktiven Karriere gutes Geld verdient“, meint Maria Collien. Aber keine Musikerin und kein Musiker kann ewig aktiv bleiben – erst recht nicht im Fach Gesang! Und so kam sie schließlich von Italien nach München zurück.
Im Präsidentenbüro
Maria Collien bewarb sich mehrmals um Stellen an der Musikhochschule München und war dabei nicht wählerisch. Professur, Lehrauftrag, Dozentin – sie liebt das Unterrichten und suchte ein finanzielles Auskommen. Insgesamt drei Mal traf sie dabei Siegfried Mauser, damals Präsident der Hochschule, zum Bewerbungsgespräch. Drei Mal wurde er übergriffig. In der Urteilsbegründung des BGH wird der genaue Tathergang geschildert. Das Urteil mit dem Aktenzeichen 1 StR 39/19 ist mittlerweile online einsehbar. Wir zitieren hier daraus:
Im Jahr 2007 bewarb sie sich erneut auf eine Stelle an der Musikhochschule. Als ihr auf Nachfrage mitgeteilt wurde, dass ihre eingereichten Bewerbungsunterlagen nicht vorlägen, vereinbarte sie über die Sekretärin einen Termin mit dem Angeklagten in dessen Büro, um ihn zu bitten, eine ordnungsgemäße Durchführung des Bewerbungsverfahrens sicherzustellen. Bei diesem Termin im Herbst 2007 bat sie der Angeklagte, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Als sie nach Beendigung des Gesprächs im Begriff war aufzustehen, ging der Angeklagte auf sie zu, packte sie, stieß sie so auf das Sofa, dass sie dort flach auf dem Rücken zum Liegen kam, legte sich auf sie und fixierte sie mit seinem Körpergewicht. Die Geschädigte konnte den erigierten Penis des Angeklagten spüren. Sie wehrte sich heftig und bemühte sich vergebens, den Angeklagten von sich herunter zu stoßen. Der Angeklagte versuchte sie zu küssen. Sie drehte den Kopf weg und schrie: „Hör auf, lass mich in Ruhe!“. Nun griff der Angeklagte der Geschädigten über der Kleidung fest an die Brust, öffnete den Knopf ihrer Hose und versuchte den Gürtel seiner Hose aufzureißen. Die Geschädigte wehrte sich heftig und versuchte insbesondere den Angeklagten wegzudrücken. Sie befürchtete, der Angeklagte werde sie vergewaltigen. Schließlich ließ sie der Angeklagte los und sagte: „Es tut mir so leid, mach´s halt, wir müssen unbedingt miteinander schlafen.“. Die Geschädigte flüchtete aus dem Büro. Ihre Bewerbungen blieben weiter erfolglos.
Am 19. Februar 2009 um 12.00 Uhr suchte die Geschädigte den Angeklagten deshalb nach Vereinbarung eines Termins erneut auf, um ihn noch einmal zu bitten, sich für ein ordnungsgemäßes Bewerbungsverfahren einzusetzen.
Um einen Übergriff zu unterbinden, setzte sie sich in seinem Büro nicht auf das Sofa, sondern auf den nur eineinhalb bis zwei Meter von der Tür entfernten Stuhl, um einen direkten Fluchtweg zu haben. Dann brachte sie ihr Anliegen vor. Der Angeklagte sicherte ihr – wie auch schon im Herbst 2007 – zu, sich darum zu kümmern. Als sich die Geschädigte nach Beendigung des Gesprächs zur Tür wandte, packte sie der Angeklagte mit beiden Händen an den Armen, zog sie zu sich heran und drückte ihr seine Zunge so heftig in den Mund, dass dies einen Würgereiz auslöste. Der Übergriff kam so schnell, dass die Geschädigte weder ausweichen noch die Zähne zusammenbeißen konnte, um das Eindringen seiner Zunge zu verhindern. Da der Angeklagte sie an sich presste, konnte sie ihre Arme nicht bewegen. Sie versuchte jedoch, sich seinem Griff zu entwinden und dem Zungenkuss zu entziehen, indem sie ihren Oberkörper nach hinten drückte. Nun ließ sie der Angeklagte mit der linken Hand los, packte ihre rechte Brust und drückte fest zu. Die Geschädigte verspürte extreme Schmerzen, schrie deshalb und rief: „Hör auf, lass mich los.“. Sie hatte im Dezember 2008 ihre Brüste operativ verkleinern lassen. Aufgrund von Komplikationen waren die Operationsnähte noch nicht verheilt. Es hatten sich eiternde Entzündungen gebildet, die mit Drainagen versorgt waren. Der Angeklagte packte ihre Hand und zog diese auf seiner Hose an seinen erigierten Penis. Nun schrie die Geschädigte: „Lass das, hör doch auf, ich bin gerade operiert worden!“. Der Angeklagte ließ von der Geschädigten ab und entgegnete: „Was, Dein schöner Busen? Naja, aber es ist ja noch genug da.“. Er müsse unbedingt mit ihr schlafen. Die Geschädigte verließ das Büro, eilte zu einer Toilette und übergab sich dort.
Für das Wintersemester 2013/2014 hatte die Hochschule einen Lehrauftrag ausgeschrieben. Die Geschädigte reichte ihre Bewerbungsunterlagen ein und vereinbarte für den 24. Juni 2013 einen Termin bei dem Angeklagten. Sie wählte bewusst eine „distanzierte Sitzordnung“. Sie nahm auf dem Stuhl nahe der Tür Platz. Zwischen ihr und dem Angeklagten stand ein weiterer Stuhl. Dann teilte sie dem Angeklagten mit, sie sei vor 30 Jahren von einem Dirigenten gegen ihren Willen in ein Gebüsch gezerrt und geküsst worden, worauf sie diesem eine Ohrfeige gegeben und ihn angezeigt* hätte.
Nachdem das Gespräch beendet war und sich die Geschädigte zur Tür wandte, sagte der Angeklagte: „Bei uns ist das ja was anderes“, packte sie mit beiden Händen, zog sie an sich und drückte ihr seine Zunge tief in den Mund. Dann fasste er der Geschädigten über der Kleidung mit einer Hand an die Brust, wobei er mit der anderen Hand seinen Griff verstärkte und griff ihr in die Hose. Die Geschädigte wehrte sich. Der Angeklagte packte ihre Hand und führte sie auf seiner Hose an seinen erigierten Penis. Die Geschädigte versuchte immer wieder, die Hand wegzuziehen. Dies misslang, weil der Angeklagte ihre Hand festhielt, und er rieb mit ihrer Hand an seinem Penis. Die Geschädigte rief, er solle loslassen, sie sei nur wegen eines Bewerbungsgesprächs hier. Der Angeklagte ließ aber nicht los. Schließlich gelang es ihr unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft sich seinem Griff zu entziehen. Darauf schob sie der Angeklagte aus seinem Büro und schloss die Tür.
* Anm.: Diese Formulierung stellt die Tatsachen sehr verkürzt dar. In der Tat gab es keine Anzeige wegen eines sexuellen Übergriffs bei der Polizei, sondern – wie oben beschrieben – bei Maria Colliens Agentur und der Theaterintendanz.
Tellerminen und ‚bienséance‘
Diese unappetitlichen Details sind in den Gerichtsakten vermerkt; das Gericht hat Maria Colliens Aussage als glaubwürdig eingestuft. Sie musste sie immer und immer wieder im Zeugenstand wiederholen. Mausers Anwälte versuchten mit einer ausgeklügelten Frage-Taktik, Widersprüche aufzudecken und die Glaubwürdigkeit der Zeugin zu untergraben. Doch da waren keine Widersprüche. Das hielt Mauser und sein Umfeld freilich nicht davon ab, eine ganz andere Version der Geschichte zu erzählen: Die Kontakte mit Maria Collien seien, genau wie die unzähligen anderen Affären in seinem Leben, einvernehmlich gewesen. Wer die obigen Schilderungen liest, kann sich selbst ein Bild davon machen, wie glaubwürdig diese Version ist. Maria Collien schüttelt den Kopf. „Das war eine dumme Verteidigungsstrategie. Wenn er sich vor Gericht nur etwas klüger verhalten hätte, wäre er doch niemals zu einer Haftstrafe verurteilt worden!“
Wie ist Mausers Verteidigungsstrategie zu erklären? Diese Frage haben nicht nur wir uns oft gestellt. Unsere Theorie: Wahrscheinlich stand in seinem Umfeld die Möglichkeit, das Gericht könne ihn für schuldig befinden, nie zur Debatte. Schon früh hatten seine „Freunde“ Briefe geschrieben und Statements veröffentlicht, um seinen Ruf zu retten und die Frauen, die die Vorwürfe erhoben, zu diffamieren. Enzensbergers „Tellerminen“-Zitat ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Dabei ging es nie darum, ob die Vorwürfe vielleicht stimmten; dass die Frauen lügen mussten, stand in diesen Kreisen mutmaßlich bereits vor Prozessbeginn fest. Wir können es uns bildhaft vorstellen: Die berühmt-berüchtigten alten weißen Männer (und auch ein paar Frauen), die in ihrem Elfenbeinturm saßen und sich in ihrer Rolle als oberste Hüter der Kultur sonnten, während sie sich über die amourösen Eroberungen der Mitglieder ihres Zirkels amüsierten, auch wenn dabei manchmal die Grenze der ‚bienséance‘ (dt.: Anstand) überschritten wurde, wie es im Vorwort der Festschrift zu Mausers 65. Geburtstag heißt.
Ob Mauser seine Version der Geschichte wohl wirklich glaubt? „Als er mich beim Schornsheim-Prozess vor dem Gericht stehen sah, ist er kreidebleich geworden“, sagt sie vielsagend. „Es waren Kameras und Journalisten da, also winkte er mir freundlich zu. Aber er ahnte wohl schon, dass meine Anwesenheit nichts Gutes verhieß.“
Der Schornsheim-Prozess bringt alles ins Rollen
Und schon sind wir mitten im Mauser-Prozess angekommen. Vor uns steht bereits der dritte Kaffee, eigentlich könnte man sich auch schon ein Mittagessen bestellen. Doch nun hat Maria Collien sich in Fahrt geredet. Wenn sie die Erlebnisse aus Mausers Büro schildert, merkt man, dass sie mit aller Kraft dafür kämpft, die Deutungshoheit über die Ereignisse zu behalten. Schweigen ist keine Option mehr für sie, auch wenn sie die Geschichte bei der Polizei und im Prozess schon dutzende Male erzählt hat.
Dabei hatte sie ursprünglich gar nicht vor, gegen Mausers Übergriffe juristisch vorzugehen. „Ich war aufgewühlt, aber nicht traumatisiert“, sagt sie heute. Sie hatte in ihrer Karriere einfach zu viel erlebt, um aus den Vorfällen eine große Sache zu machen. Nur eines wurmte sie: Sie fand, dass sie aufgrund ihrer Qualifikationen und der internationalen Erfahrung für die Stellen besser geeignet gewesen sei als manch andere BewerberIn. „Ich gönne jedem und jeder von ihnen die Stelle, aber ich wurde vorsichtiger.“ Irgendwann gab sie es auf, sich weiter zu bewerben. Sie konzentrierte sich aufs private Unterrichten und auf ihre Chorleitungen. Bis sie wenige Tage vor dem Schornsheim-Prozess zufällig davon in der Zeitung las.* „Da ist natürlich alles wieder hochgekommen. Ich wusste sofort: Da muss ich als Zeugin hin!“ Zu diesem Zeitpunkt war die Kampagne pro Mauser schon längst angelaufen; den anderen Frauen drohte die mediale Vernichtung. „An dem Morgen versuchte ich, mich auf die Chorprobe zu konzentrieren. Nach der Probe kam eine Freundin zu mir und wollte etwas mit mir besprechen. Ich sagte ihr: ‚Ich kann jetzt nicht, es geht mir gerade sehr schlecht.‘ Sie sah mich an und fragte: ‚Geht es um den Zeitungsartikel?‘ Sie wusste sofort Bescheid.“ Einige Chormitglieder hatten den Artikel bereits gelesen und sofort den Zusammenhang zu Maria Colliens Schilderungen ihrer Bewerbungsversuche an der Hochschule gesehen.
*Anm.: Die Münchener Cembalo-Professorin Christine Schornsheim zeigte Siegfried Mauser wegen sexueller Nötigung an. Er wurde 2017 nach einer Revision zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Sie schrieb an das Gericht, um sich als Zeugin zur Verfügung zu stellen, aber erhielt keine Antwort. Also ging sie einfach zum Prozess hin. Ohne Anwalt, ohne konkreten Plan. Sie wollte als Zeugin aussagen, wollte ihre Geschichte erzählen, um den anderen Frauen beizustehen. Sie sollten nicht als Lügnerinnen abgestempelt werden, denn Maria Collien war sich sicher: Ihre Geschichten stimmten, so wie ihre eigene. „Ich stand vor dem Gericht und wusste: Wenn ich als Zeugin aussagen will, darf ich nicht einfach mit in den Gerichtssaal gehen. Aber ich musste ja irgendwen finden, mit dem ich reden kann. Irgendwann wurden alle Anwesenden herein gebeten. Ich stand unschlüssig herum, bis mich ein Gerichtshelfer ansprach: ‚Wollen sie jetzt rein oder nicht?‘ Also ging ich rein. Im Gerichtssaal fragte die Richterin, ob es noch Zeugen unter den Anwesenden gebe. Diese sollten nun bitte den Saal verlassen. Ich stand auf – natürlich gut sichtbar für alle – und ging wieder hinaus.“
Muss es für Betroffene in unserem Rechtssystem wirklich so schwierig sein? Natürlich, Maria Collien hätte sich von Anfang an einen Anwalt nehmen können, der ihr die genaue Vorgehensweise hätte erklären können. Doch Anwälte kosten Geld – Geld, das die wenigsten Betroffenen haben. „Er war doch der Täter! Keinen Cent wollte ich dafür bezahlen!“ Immerhin hatte dieses Hin und Her zur Folge, dass sie eine Stunde später von der Kripo angerufen und zu einer Zeugenaussage vorgeladen wurde.
Geistige Verwirrung?
Was als Zeugenaussage begann, entwickelte sich in den nächsten Stunden zu einem ganz neuen Fall. Ohne dass sie es beabsichtigt hatte, war Maria Collien so tief drin, dass sie nicht mehr herauskam. Mehrere Stunden dauerte die Vernehmung.
Dass sie von Anfang an bei ihrer Geschichte blieb, war ihr Glück. Denn die Anwälte Mausers setzten alles daran, Widersprüche in ihrer Aussage zu finden. „Fünf oder sechs Mal musste ich im Zeugenstand jede Frage beantworten. Mauser saß nur wenige Meter entfernt, die Verhandlungen zogen sich über Stunden.“ Eine enorme Belastung, auch wenn die Richterin sehr einfühlsam gewesen sei: „Ich fragte sie: Ich habe diese Frage jetzt schon so oft beantwortet, muss ich es wirklich noch einmal sagen? Die Richterin antwortete: ‚Ja, wenn sie so nett wären und die Frage noch einmal beantworten könnten.‘ Dann wandte sie sich an Mausers Anwälte und sagte: ‚Dann ist es aber genug!‘“ In ihrer Urteilsbegründung wies die Richterin genau darauf hin: Maria Collien habe alle Fragen immer wieder gleich beantwortet, nicht nur mit ja oder nein, sondern in eigenen Worten.
Am Ende gab es nur zwei vermeintliche Unstimmigkeiten zwischen ihrer ersten polizeilichen Vernehmung und ihrer Aussage vor Gericht, die die Verteidigung meinte „aufdecken“ zu können: Erstens, wie lange eben diese Vernehmung genau gedauert hatte, und zweitens, ob es das zweite oder dritte Treffen mit Mauser gewesen sei, bei dem er versucht hatte, ihr die Hose herunter zu ziehen. Für Außenstehende und nach jeglichem gesunden Menschenverstand sind das nur unbedeutende Fragen, doch das sahen Mausers Anwälte ganz anders: Auf Grund dieser Details zweifelten sie nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern auch den Geisteszustand Maria Colliens an. Ihre unklaren Aussagen seien das Ergebnis von geistiger Verwirrung. Das Gericht sah dies logischerweise anders, ihren Revisionsantrag bauten die Anwälte trotzdem darauf auf.
Die Monate, über die sich der Prozess hinzog, waren für Maria Collien die Hölle. „Irgendwann konnte ich gar nichts mehr machen. Ich ging zu einer Feier und drehte mich vor der Tür wieder um und ging. Ich wollte etwas für euren Blog schreiben, aber sobald ich den Stift in die Hand nahm, fingen meine Hände an zu zittern.“ Weil manche ihrer Freundinnen und Freunde im Prozess ebenfalls aussagen mussten, wurde ihr geraten, in dieser Zeit keinen Kontakt zu ihnen aufzunehmen. „Ich habe wochenlang mit niemandem über die Angelegenheit sprechen können und nur noch meine Arbeit mit letzter Kraft und Disziplin verrichtet. Das war das Schlimmste. In der Folge bin ich an einer Gürtelrose erkrankt und hatte Darmkoliken.“
Es ist eine Ungeheuerlichkeit, dass Missbrauchsopfer vor Gericht so leiden müssen. In der Öffentlichkeit mag Siegfried Mauser die Vorfälle als ‚Missverständnisse‘ abtun, als Ereignisse, die man so oder auch anders interpretieren könnte. Aber selbst wenn er sich tatsächlich für unschuldig hält: Das, was er und seine Anwälte den Frauen in den Prozessen angetan haben, ist zutiefst verwerflich. Natürlich hat jeder das Recht, sich vor Gericht zu verteidigen, aber es gibt neben dem juristischen Urteil eben auch noch das gesellschaftliche. Und dieses Urteil fällt für uns nach den Prozessen vernichtend aus. Wenn man Maria Colliens Geschichte hört, erscheinen einem die Reaktionen vieler Mitglieder der ‚kulturellen Elite‘ abstrus. Sie haben sich damit unserer Meinung nach für sämtliche öffentlichen Ämter und Funktionen disqualifiziert.
„Ich würde es heute wieder so machen.“
Übrigens hat Maria Collien weder Schmerzensgeld noch Schadensersatz bekommen. Mauser hat keine finanzielle Entschädigung getätigt; Schadensersatz müsste sie vor einem Zivilgericht einklagen. Aber möchte sie sich wirklich noch einen weiteren Prozess antun? Sie musste sogar die Erstberatung bei ihrer Anwältin selbst bezahlen. Keine große Summe – Mauser hat für seine Anwälte ein Vielfaches bezahlt –, aber doch ein kleiner Stich: Warum soll jemand, der Opfer sexueller Nötigung geworden ist, noch zusätzlich Geld bezahlen, um Gerechtigkeit zu erfahren?
Natürlich stellt sich die Frage, warum sie sich das eigentlich angetan hat. Doch diesen Gedanken lässt sie gar nicht zu: „Ich würde es heute wieder so machen. Vielleicht war es meine Bestimmung.“ Jetzt, wo sie wieder frei von alledem ist, will sie außerdem weitermachen. „Jetzt mache ich alles! Ich gebe gerne Interviews und Betroffene können sich auch bei mir melden.“ Unglaublich, dass sie dafür noch die Kraft hat. „Wieder!“, sagt sie und lächelt. „Mit dem Urteil des BGH ist eine große Last von mir abgefallen. Ich bin ein neuer Mensch!“*
*Anm.: Diese Aussage stammt aus dem November 2019. Dadurch soll nicht relativiert werden, dass Mausers Opfer nach wie vor einem großen Leidensdruck ausgesetzt sind, z.B. durch die Festschrift zu seinem 65. Geburtstag, seiner Ankündigung, vor das Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof zu ziehen, seinem Nichtantritt der Haftstrafe und seiner Erklärung, er sei aus gesundheitlichen Gründen angeblich haftunfähig.
Mit diesem Satz sind wir sind am Ende unseres Gesprächs angekommen. Wir sind total erledigt; uns platzt der Kopf von all den grausamen Geschichten, die wir hier gar nicht alle anbringen konnten. Wir werden einige Tage brauchen, um alles zu verarbeiten. Schwierig genug, wo uns doch unser Arbeitsalltag erwartet. Wie muss es da erst für sie in den letzten Monaten gewesen sein?
Nachdem wir uns verabschiedet haben, blicken wir ihr nach und versuchen, unsere Gedanken zu ordnen. Die MusikerInnen sind nicht gut darin, in der Beurteilung eines Menschen zwischen dem Künstlerischen und dem Persönlichen zu unterscheiden. Wer ein großer Künstler ist, der wird auch persönlich bewundert, wer lediglich an einer Musikschule unterrichtet oder ‚rummuckt‘, der wird nicht selten auch menschlich verachtet. „Ich habe nie zur ersten Garde gehört“, hat Maria Collien vorhin gesagt. Was für eine verwunderliche Aussage! Immerhin sind in ihrer Biografie namhafte Opernhäuser, große Orchester und berühmte Dirigenten vermerkt. Doch spielt das wirklich eine Rolle? Die größte Leistung in ihrem Leben hatte nichts mit Musik zu tun. Sie hat – gemeinsam mit den anderen Nebenklägerinnen – geschafft, was in der #metoo-Debatte selten ist: Einen Täter vor Gericht zu stellen und eine Verurteilung zu erwirken. Wir sind uns daher sicher: Wir haben grade eine der ganz Großen der Musikszene getroffen. Größer als wir, größer als all die, die weggesehen haben, und vor allem: Größer als Siegfried Mauser.
Laura & Daniel
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Bildquellen:
„Sänger der Regensburger Domspatzen bei einem Gottesdienst 2011“: Quelle, Autor: Michaelvogl, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany
„Das Spoleto-Festival 2008“: Quelle, Autor: ElettroDevice, Lizenz: public domain
„Szene aus ‚Rheingold‘, Illustration von Arthur Rackham (1867-1939) von 1910“: Quelle, Autor: Arthur Rackham, Lizenz: public domain
„„Damen, deren Avancen zurückgewiesen werden, gleichen tückischen Tellerminen“, schrieb Hans Magnus Enzensberger 2016 in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung.“: Quelle, Autor: Felix König, Lizenz: Creative Commons Attribution 3.0 Unported
„Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe; dort wurde das Urteil gegen Siegfried Mauser bestätigt.“: Quelle, Autor: ComQuat, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
„Der nördliche Lichthof der Musikhochschule München; in diesem Gebäude fanden die Übergriffe Mausers statt.“: Quelle, Autor: Wolfgang Rieger, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
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Ich bin sehr beeindruckt. Über Maria Collien habe ich bei Euch schon mehr gelesen, aber hier wird mir noch mehr klar, was für eine starke und entschiedene Frau sie ist. Meine Hochachtung! Klar wird auch, welchen Preis sie zahlen musste. Sie hat sich dafür entschieden, und ich wünsche ihr, dass es ihr auch heute damit gut geht. Es ist aber schlimm, das sog. Opfer so etwas durchmachen müssen, und hoffe, dass sich im Rechtsumfeld etwas ändert, um Aussagewilligen diesen Weg zu erleichtern.
Alle guten Wünsche für Maria Collien!
Liebe Uta,
ein dickes Dankeschön für den anteilnehmenden Kommentar.
Riesige Anerkennung meinerseits gilt vor allem den beiden, Laura und Daniel, die sich mit ihrem Blog zeitaufwendig und uneigennützig einsetzen, die vielen Missstände unserer Branche ins Rampenlicht zu rücken.
Meine Hoffnung wäre, dass nun auch weitere Betroffene Mut bekommen und sich dazu aufraffen könnten, sich ebenso diesem Kampf zu stellen, damit nicht all unsere Anstrengungen und der Mut umsonst waren….
🙏 für Ihre guten Wünsche!
Herzlichst, Maria Collien
[…] Künstlerin Maria Collien Dem Harfenduo erzählte Maria Collien danach ihr Schicksal. Das erschien nun ein Jahr nach dem Urteil auf dem Blog des Harfenduos. Oetzel und Mattelé […]
Sehr geehrte Frau Collien,
ich bin schwer beeindruckt und tief erschüttert.
Mit großem Respekt, Jan Müller-Wieland
Dear Ms. Collien,
One can only admire your courage and steadfastness to navigate through such unsettling experiences with subspecies such as Mauser and bring these ugly trespasses to notice and judicial reckoning. Justice should and shall prevail.
Courage must be rewarded.
Dr. John Millstream
Zeigt nicht die Überschrift, dass ihr beiden befangen seid? „Ganz groß“ ist ja für die andere Seite Mauser, der all das auszustehen hat. Mit nüchternerem Kopf – wäre man da nicht neutral und eben so unbefangen wie notwendig, um auf die Widersprüche beider ernsthaft eingehen zu können? Oder zählt all das nicht, weil ihr euch auf eure Gefühle verlasst und deshalb zb auch diesen Kommentar sperren würdet?
Hallo Dino,
wenn Du bessere Argumente hast als der Bundesgerichtshof, der Mauser für schuldig befunden hat, dann her damit. Falls nicht, hör bitte auf mit diesem Unsinn.
Was das angebliche „Sperren“ Deiner Meinung angeht: Du spielst auf einen Kommentar von Dir an, den wir mal teilweise gelöscht haben. Das mussten wir tun, weil Du in dem Kommentar einen kompletten Zeitungsartikel kopiert hattest. Das widersprach dem Urheberrecht und lag nicht daran, dass uns Deine Meinung nicht gefällt.
Solange Du Dich an die Nutzungsregeln unseres Blogs, das Urheberrecht und die allgemeine Höflichkeit hältst, sehen wir kein Problem darin, auch Meinungen zu veröffentlichen, die nicht unserer eigenen entsprechen.
Viele Grüße
Laura & Daniel
[…] ausführliches Interview mit Maria Collien hat das „Harfenduo“ hier […]