Im Mai 2018 erschien im SPIEGEL eine Reportage von Martin Knobbe und Jan-Philipp Möller, die unhaltbare Zustände an der Münchner Musikhochschule dokumentiert. Gegen die ehemaligen Professoren Siegfried Mauser und Hans-Jürgen von Bose laufen Gerichtsverfahren wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung.
In der vergangenen Woche haben wir Moritz Eggert zu den Vorfällen an der HMT München interviewt. Nun fragten wir Freia Hoffmann nach ihrer Perspektive zu dem Thema. Die studierte Flötistin und Musikwissenschaftlerin engagiert sich seit vielen Jahren gegen Gewalt im Instrumentalunterricht. Sie veranstaltet Präventionsseminare an Musikschulen und Musikhochschulen. Freia Hoffmann ist Professorin für Musikpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Als Leiterin des Sophie-Drinker-Instituts widmet sie sich der musikwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung.
Die Vorfälle an der HMT München
Frau Hoffmann, Sie arbeiten seit vielen Jahren in der Musikpädagogik und haben schon einiges zum Thema Missbrauch im Instrumentalunterricht geforscht und publiziert. Haben Sie die Vorkommnisse an der Musikhochschule München bzw. der SPIEGEL-Artikel darüber überrascht?
Freia Hoffmann: Dass es an Musikhochschulen diesbezüglich eine große Dunkelziffer gibt, habe ich schon vermutet. Wenn ich Fortbildungen veranstalte, wird vorher immer versichert (das ist mir auch wichtig), dass es zurzeit keine Probleme gäbe. Hinterher, im kleinen Kreis oder am Telefon, öffnen sich die KollegInnen dann, berichten von zurückliegenden oder auch aktuellen Fällen. Die Gleichstellungsbeauftragten sind zur Verschwiegenheit verpflichtet, das ist, auch im Sinne der Opfer, sehr wichtig. Deshalb dringen die Probleme selten nach außen, schon gar nicht an die Medien.
Die Vorkommnisse in München haben mich trotzdem überrascht, im quantitativen Ausmaß und in der Heftigkeit. Es sind von der Verwaltungs- und Leitungsseite gravierende Fehler gemacht worden, wenn man z. B. Lehrenden erlaubt hat, zuhause zu unterrichten. Was mich aber am meisten überrascht hat, war die große Zahl von Studierenden und Lehrenden, die anscheinend vieles wussten und in einer falschen Auffassung von institutioneller Rücksicht geschwiegen haben. Das ist unverantwortlich.
Was wäre von Seiten der Musikhochschule München jetzt wichtig, um das Vertrauen in die Institution wieder herzustellen?
Freia Hoffmann: Eine ehrliche und offene interne Aufarbeitung unter der Anleitung von Fachleuten, in die alle einbezogen werden – vor allem auch MitwisserInnen, die nichts unternommen haben.
„Panische Gefühle“ – Die Betroffenen kommen zu Wort
In ihrem Buch „Panische Gefühle“ sammelte Freia Hoffmann Fallbeispiele von sexuellen Übergriffen im Instrumentalunterricht. Betroffene von sexueller Gewalt, wie ehemalige Musikschülerinnen und (Jung-)Studentinnen berichten darin von ihren Erlebnissen. Auch die rechtlichen und psychologischen Aspekte der Thematik werden umfassend beleuchtet. Dabei kommen unter anderem auch eine Psychologin und eine Juristin zu Wort; mehrere Gleichstellungsbeauftragte und ein Dekan einer deutschen Hochschule liefern Einblicke in die Abläufe an Musikhochschulen.
Frau Hoffmann, Ihr Buch „Panische Gefühle“ erschien 2006. Wie aktuell ist die Problematik noch? Was hat sich seitdem getan?
Freia Hoffmann: Ich fürchte, es hat sich nicht viel getan. Änderungen sind dann möglich, wenn Institutionen unmissverständlich klarmachen, dass SchülerInnen und Studierende vor Übergriffen aller Art geschützt werden, wenn das Thema Bestandteil von Arbeitsverträgen, Leitbildern, Elterninformationen, Richtlinien, Internetseiten usw. ist. Und da reagieren fast alle Institutionen noch sehr zögernd – wahrscheinlich nach der Vogel-Strauß-Taktik: Wenn ich nichts weiß und nichts benenne, dann wird schon keiner was merken.
Was für Reaktionen haben Sie auf Ihr Buch bekommen?
Freia Hoffmann: Als ich wegen der Veröffentlichung bei Verlagen nachgefragt habe, wurde die Ablehnung in einem Fall damit begründet, dass „grob formuliert der an sich vorgesehene Käuferkreis identisch ist mit dem Täterkreis“. Ich fand diese Annahme absurd, aber vielsagend. Als das Buch erschienen war, reagierten die Fachkollegen und die Fachpresse dann tatsächlich mit einvernehmlichem Schweigen. Stattdessen haben sich viele Leserinnen gemeldet: Opfer von Übergriffen, in einem Fall auch die Mutter einer Studentin, die im Unterrichtsraum einer renommierten Musikhochschule vergewaltigt wurde. Ich habe viele Gespräche geführt und in einigen Fällen auch Texte bekommen – das Schreiben ist ja auch eine Form der Aufarbeitung.
Auf welche Schwierigkeiten stießen Sie im Verlauf der Recherche und Publikation des Buches?
Freia Hoffmann: Erwartungsgemäß war es nicht schwierig, von Fällen zu erfahren, die in dem Buch dokumentiert werden konnten. Wer im Bekanntenkreis das Thema erwähnt, bekommt ja sofort Rückmeldungen und Beispiele. Und ich hatte Mitarbeiterinnen, die Fallbeispiele beitrugen und für das Buch auch eigene Beiträge formulierten. Schwieriger war es für die Betroffenen, über teilweise zurückliegende Erfahrungen wieder zu sprechen, sich den Vorfällen nochmals zu stellen. Und für mich war es sehr anstrengend, mich in Gerichtsakten mit dem ganzen Ausmaß widerlicher Übergriffe zu konfrontieren.
Der Einzelunterricht – ein besonderer Nährboden für Übergriffe oder Raum für Vertrautheit und Intimität?
Als studierte Musiker haben wir beide das System Musikhochschule durchlaufen. Ohne die besondere Situation des Einzelunterrichts können auch wir uns das Erlernen eines Instruments nicht vorstellen. Wir haben erlebt, dass Unterricht gewaltfrei, inspirierend und bereichernd sein kann. Dennoch fragen wir uns angesichts der ans Licht kommenden Fälle immer wieder, ob der Missbrauch an Musikhochschulen ein strukturelles Problem ist, vielleicht sogar institutionell begünstigt.
Frau Hoffmann, ist der Instrumentalunterricht besonders anfällig für Missbrauch?
Freia Hoffmann: Das Besondere besteht darin, dass die Ausbildung im Hauptfach meist im Einzelunterricht stattfindet, und das ist sicherlich ein besonderer Nährboden für Übergriffe. Im Instrumental- und Gesangsstudium werden intensive körperliche, emotionale und künstlerische Erfahrungen gemacht. Der Unterricht kann kaum stattfinden ohne Körperarbeit, die Lehrkraft muss die Atmung, die Haltung, die Spielbewegungen schulen. Zur notwendigen Nähe zwischen Lehrenden und Studierenden kommt sicher auch die emotionale und sinnliche Wirkung der Musik. Der Unterricht kann nur gelingen, wenn Vertrautheit und Intimität in einem geschützten Raum erlebt werden. In diesen Raum, wenn es sich um Einzelunterricht handelt, haben aber Dritte, im wörtlichen und übertragenen Sinn, keinen Einblick. Das macht die Situation in der Musikausbildung anfällig.
„Übrigens würde ich das Wort ‚Missbrauch‘ nicht verwenden, es legt nahe, dass es auch einen legitimen
‚Gebrauch‘ von Menschen gibt.“ – Freia Hoffmann
Wo verläuft die Grenze zwischen einem harmlosen Flirt, Belästigung und Missbrauch?
Freia Hoffmann: Offen gesagt, weiß ich – nach meinen Erfahrungen der letzten Jahre – nicht, ob ein Flirt zwischen Lehrenden und Studierenden überhaupt harmlos sein kann. Aus dem, was ich eben sagte, geht ja schon hervor, dass Situationen oft erotisch aufgeladen sein können. Da sollten Lehrende ihre Verantwortung wahrnehmen. Auch Studierende sollten eine professionelle Auffassung von ihrem Studium haben, selbst rechtzeitig Grenzen signalisieren und den Unterricht nicht zum Flirten missbrauchen.
Was als Belästigung empfunden wird, ist individuell verschieden. Das müssen nicht nur Körperkontakte sein; auch geschmacklose Witze oder Bemerkungen können als Belästigung wahrgenommen werden. Eine Regel heißt, dass die Definition immer bei der betroffenen Person liegt. Wenn eine Studentin oder ein Student so etwas zur Sprache bringt, sind Lehrende gut beraten, es ernst zu nehmen. Nur durch eine solche Rückmeldung können sie ja ihr Verhalten ändern.
Übrigens würde ich das Wort „Missbrauch“ nicht verwenden, es legt nahe, dass es auch einen legitimen „Gebrauch“ von Menschen gibt.
Oft hat man sehr intensiven Kontakt zwischen Lehrenden und Studierenden. Man trifft sich auch außerhalb des Unterrichts bei Konzerten und Wettbewerben. Muss das zwangsläufig ein Problem darstellen? Wie bewerten Sie das?
Freia Hoffmann: Intensiver Kontakt muss nicht zwangsläufig ein Problem darstellen, aber alle Beteiligten müssen verantwortungsvoll damit umgehen. Der Lehrende soll hier nicht seine erotischen Bedürfnisse ausleben, sondern er soll jungen Menschen bei ihrer fachlichen und beruflichen Entfaltung behilflich sein. Problematische Situationen entstehen auf Reisen, in anderer Umgebung, ohne Einbindung in Familie und Freunde.
In vielen Formen des Unterrichts wird der Körperkontakt als unverzichtbar angesehen. Wann läuft die Situation aus dem Ruder? Wie viel Nähe ist zu viel? Kann man darüber überhaupt allgemeine Aussagen treffen?
Freia Hoffmann: Ich höre nach den Diskussionen der letzten Zeit häufig, dass Lehrkräfte ganz auf Berührungen verzichten wollen. Das fände ich schade, weil Berührung oft hilft, z. B. bei unnötiger Anspannung, bei Haltungskorrekturen und beim Atmen. Eine allgemeine Aussage kann man hierzu nicht treffen. Ein Hochschullehrer sagte in diesem Zusammenhang: „Es wird zum Problem, wenn ich etwas für mich selbst will“, der Satz hat mir gefallen. Und vielleicht sind manche Lehrende auch nicht in der Lage, einen Unterschied zu spüren zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen anderer.
Viele Lehrkräfte, die sexuelle Kontakte mit ihren StudentInnen haben, sagen, dass dies einvernehmlich sei und die StudentInnen erwachsene Menschen seien, die sich zwanglos für diese Beziehung entschieden hätten. Was halten Sie von dieser Aussage?
Freia Hoffmann: Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass die Studentinnen letzten Endes meist den Kürzeren ziehen. Vor allem, wenn der Lehrende verheiratet ist. Oft ist ein solcher „Seitensprung“ oder eine Affäre für ihn ja auch nicht das erste und nicht das letzte Mal. Kann sie sich bei einem so ungleichen Kräfteverhältnis gegen Zumutungen wehren, Ansprüche stellen? Aber es ist ja richtig: Die StudentInnen sind erwachsene Menschen, und es ist ihre eigene Verantwortung, ob sie sich auf ein solches Verhältnis einlassen.
Man muss aber in diesem Zusammenhang auch erwähnen, dass Universitäten und Hochschulen die Orte sind, wo oft lebenslange Beziehungen angeknüpft werden – sie sind sozusagen ideale Eheanbahnungsinstitute. Wenn sich eine Beziehung zwischen LehrerIn und SchülerIn entwickelt – nichts dagegen. Sie sollten aber schnellstmöglich einen Lehrerwechsel organisieren.
Was hat Ihrer Erfahrung nach ein Übergriff für Konsequenzen für die/den TäterIn?
Freia Hoffmann: Bisher leider noch wenig. Gerede an der Hochschule, vielleicht ein peinliches Gespräch mit Vorgesetzten. Wenn es ein einsichtiger Mensch ist, wird er sein Verhalten ändern, wenn nicht, wird er versuchen, sich mit einem Gegenangriff zu wehren. Meist gibt es Ärger. Aber das sollten Betroffene aushalten.
Was gibt es außer sexuellen Übergriffen noch für Formen des Machtmissbrauchs und welche Folgen können sie für die Betroffenen haben?
Fortbildungen an Musikhochschulen – wie funtioniert das?
Nun ist die Problematik an vielen Hochschulen durchaus präsent. Zu erwähnen sind hier beispielsweise Aktionstage mit Workshops und Podiumsdiskussionen an den Hochschulen in Leipzig, Düsseldorf oder Weimar im vergangenen Jahr, oder die „Wir sagen nein“-Kampagne der HfMT Köln. Aber was spielt sich bei diesen Fortbildungen ab? Wer nimmt daran teil? Wir haben Freia Hoffmann dazu befragt.
Sie veranstalten Fortbildungen an Musikhochschulen. Welche Inhalte werden dort vermittelt? Wer nimmt daran teil?
Freia Hoffmann: Ich führe diese Fortbildungen zusammen mit der Diplom-Psychologin Monika Holzbecher durch. Wir machen die Fortbildungen an Musikhochschulen und Musikschulen. Zielgruppe sind Lehrkräfte und Studierende, und ich glaube, sie alle können viel lernen, auch für ihre tägliche Praxis. Wir klären Definitionsunsicherheiten und Handlungsmöglichkeiten: Wo sind Körperkontakte sachlich gerechtfertigt? Ist es schon ein Übergriff, wenn im Unterricht einseitig geduzt wird? Ist es ein Problem, wenn ein Hochschullehrer seine StudentInnen zu Hause unterrichtet? Wie soll eine Studentin reagieren, wenn die Lehrerin ihr im Unterricht ihre gesamte Scheidungsproblematik ausbreitet? (Wie) soll man eingreifen, wenn man bei KollegInnen übergriffiges Verhalten vermutet? Was machen Sie als Hochschullehrer, wenn sich eine Studentin in Sie verliebt? (Wie) können Lehrkräfte reagieren, wenn sie die Kleidung von Studentinnen provozierend oder unangemessen finden? Gibt es besondere kulturelle Hintergründe, die man kennen sollte?
Wie kommen solche Fortbildungen zustande? Wie reagieren die TeilnehmerInnen? Was halten Sie davon, die Fortbildungen zu Pflichtveranstaltungen zu machen, wie es in anderen Betrieben und Unternehmen geschieht?
Freia Hoffmann: Wir machen Fortbildungen nur, wenn wir von den Hochschulen angefragt werden. Uns ist es wichtig, dass die Teilnahme freiwillig ist. Wenn Lehrkräfte den Eindruck haben, „unter Generalverdacht gestellt“ zu sein, sind solche Fortbildungen nicht möglich. Vor allem bei Musikschulen spüren wir immer sehr genau, ob ein Kollegium auch in anderen Fragen gut zusammenarbeitet. Dann sind diese Fortbildungen sehr produktiv, und ich weiß, dass alle TeilnehmerInnen davon profitieren.
Fortbildungen enthalten einen einführenden Vortrag, einen Austausch über die vor Ort wichtigen Themen, Arbeit in Gruppen, Auswertung im Plenum, Abschlussdiskussion über Konsequenzen.
Glauben Sie, dass Sie mit Ihren Fortbildungen die „Richtigen“ erreichen?
Freia Hoffmann: Gibt es „Richtige und Nicht-Richtige“? Ich glaube, dass sich eigentlich alle mit dem Thema beschäftigen sollten, die zu einem respektvollen Umgang mit Studierenden beitragen wollen. Das Beispiel München hat gezeigt, dass Übergriffe nur in einem Klima des Wegschauens möglich sind. Da kann jeder und jede zu einer Änderung beitragen.
„Täter“, d. h. solche Kollegen, von denen man an der Hochschule schon weiß oder stark vermutet, dass sie übergriffig sind, werden nicht freiwillig zu einer Fortbildungsveranstaltung erscheinen. Aber sie werden möglicherweise registrieren, dass ihr Treiben Konsequenzen haben könnte. Und sie werden hoffentlich erleben, dass Studentinnen sich wehren.
Hilfsangebote für Betroffene
Was kann man denn konkret tun, wenn es zu Übergriffen im Unterricht gekommen ist? Gibt es Möglichkeiten, dies im Vorfeld zu vermeiden? Wo findet man Hilfe? Freia Hoffmann empfiehlt verschiedene Wege, mit Problemen umzugehen.
Was kann ich als SchülerIn oder StudentIn tun, um von vornherein Situationen zu vermeiden, in denen es im Unterricht zu unerwünschten Annäherungen kommen könnte?
Freia Hoffmann: Ich würde heute, nach meinen eigenen Erfahrungen im Musikstudium, nicht mehr zu einem Lehrer gehen, der einen entsprechenden Ruf hat. Kein Lernfortschritt rechtfertigt die Mühe, sich einen übergriffigen Professor vom Leib zu halten. Wenn es dann trotzdem passiert: ansprechen und verdeutlichen, was Sie nicht möchten. Wenn das nichts hilft, fachkundige Dritte zu einem Gespräch hinzuziehen.
Was sollte ich tun, wenn es zu Übergriffen gekommen ist? An wen kann ich mich wenden?
Freia Hoffmann: Dafür gibt es an allen Hochschulen Gleichstellungsstellen. Wenn Sie den Eindruck haben, dass hier zu viel interne Nähe zu dem Beschuldigten besteht, wenden Sie sich an eine externe Beratungsstelle. Adressen und Telefonnummern findet man im Internet beispielsweise unter „Hilfeportal Sexueller Missbrauch“ und unter „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ (Familienministerium). Sinnvoll ist es auch, sich mit den Richtlinien der Hochschule und ggf. mit Gesetzen (§ 177 Stgb und Änderung vom 4. Nov. 2016) vertraut zu machen. Selbstverständlich sind dann auch die Vorgesetzten, DekanInnen, RektorInnen, PräsidentInnen gefragt.
Wann würden Sie Betroffenen raten, sich an die Polizei zu wenden?
Freia Hoffmann: Das würde ich nur nach Ausschöpfung aller anderen Mittel und nur mit der Assistenz von Gleichstellungsbeauftragten und speziell für solche Fälle geschulten internen oder externen Fachleuten tun. Prozesse sind schwer durchzuhalten, und je nach Status des Beschuldigten (z. B. bei Beamten) kann es sehr schwierig werden, Konsequenzen zu erreichen.
Manche StudentInnen glauben, dass sie die Übergriffe ertragen müssten, um nicht ihre Karriere zu gefährden. Was denken Sie darüber? Kann man mit solchen Erfahrungen überhaupt eine gesunde Karriere machen?
Freia Hoffmann: Wünschenswert wäre es, dass sich Betroffene (z. B. in ihrer Klasse) untereinander verständigen und wehren. Ich weiß aus Rückmeldungen bei Fortbildungen, dass dem oft die Konkurrenz untereinander und die Hoffnung auf eine Karriere entgegen stehen. Aber vielleicht denken Sie auch an die Studierenden, die nach Ihnen bei demselben Lehrer möglicherweise dieselben Erfahrungen machen.
Und aus zahlreichen Fallbeispielen weiß ich, dass das Ertragen von Übergriffen und Zudringlichkeiten dem Musikmachen nicht bekommt.
Gibt es Selbsthilfegruppen für Betroffene? Gibt es konkret musikbezogene Initiativen, jenseits der allgemeinen Frauenberatungsstellen?
Freia Hoffmann: Meines Wissens gibt es diese Initiativen noch nicht. Es wäre ein erfreuliches Zeichen der Solidarität und der gegenseitigen Unterstützung, wenn die Betroffenen solche Selbsthilfegruppen selbst organisieren würden.
Wir bedanken uns für das Gespräch!
Bildquellen:
Freia Hoffmann: Quelle, Autor: Jü, Lizenz: Creative Commons-Lizenz CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication
Logo Hilfetelefon: mit freundlicher Genehmigung von N.I.N.A. e.V.
3 Comments
Danke fürs Interview.
In paar Punkten habe ich andere Ansichten:
Ich bin skeptisch, dass eine striktere Rahmenreglementierung sexuelle Gewalt verhindern würde. Nicht der Unterricht beim Professor zu Hause ist ein Problem, sondern die Verwischung und Überschreitungen der Grenzen bei Beteiligten, die diesbezüglich keine klare Linie halten können. Ein Musiker, der Probleme mit Wahrnehmung und Wahrung von Grenzen hat, ist als Lehrer nicht geeignet – eigentlich müsste dieses Thema „Grenzen“ flächendeckend im Musikpädagogikstudium als Lehrstoff behandelt werden.
Ob Betroffene zur Polizei gehen sollen, sollte man individuell entscheiden. Man kann nicht pauschal dazu raten oder davon abraten. Wünschenswert wäre es eigentlich, wenn die Betroffenen begründete Hoffnungen haben können – hier haben z.B. die Münchner Polizei und Justiz ein positives Zeichen gesetzt. Wenn genug Betroffene reden, hilft es auch, Vorurteile in der Justiz und in der Gesellschaft allgemein abzubauen.
Beim Thema „Selbsthilfegruppe“ muss man schauen, was damit gemeint ist: eine therapeutische Selbsthilfegruppe (z.B. zur Traumaverarbeitung), eine politische Initiative (für ein besseres Hochschulrecht, Einrichtung einer Beratungsstelle usw.), ein Kollektiv (z.B. Erfahrungsberichte zur Verdeutlichung, dass es viele Betroffene sind), Selbsthilfe im Sinne von „Karriereberatung“ nach einem Übergriff (kann und soll man die Klasse wechseln, wem sage ich was, will ich das Musikstudium lieber abbrechen, wie gehe ich mit dem Täter um, usw.)? Einiges gibt es schon; in einigen Bereichen gibt es gravierende Defizite; manches sollte man nicht machen, da dies ohne Anleitung für die Betroffenen schädlich sein kann (z.B. Re-Traumatisierung durch Anhören von anderen Geschichten).
Liebe(r) k.,
sehr schön, dass Du auch andere Meinung zu den Themen hast! Nur so kann eine Diskussion zustande kommen, bei der am Ende vielleicht die beste Lösung für alle Beteiligten steht. Bitte mehr davon, denn weder Moritz Eggert, noch Freia Hoffmann, noch wir haben Patentlösungen zum Umgang mit Übergriffen! Wir möchten alle Musiker bitten, über diese Themen zu sprechen und sich auszutauschen – egal, ob man selbst betroffen ist oder nicht.
Zu Deinen Anmerkungen: Es wäre wünschenswert, wenn in der Ausbildung mehr auf diese Themen eingegangen wird, aber was ist mit den Lehrkräften (z.B. Professoren), die (fast) keine pädagogische Ausbildung haben? Hier muss von Hochschulseite aus ein klares Signal kommen, dass auch „Stars“ keinen Sonderstatus besitzen.
Was Frau Hoffmann zu Thema Polizei sagt, ist ja nur, dass ein Gerichtsprozess sehr frustrierend sein kann. Wir haben höchsten Respekt vor den Frauen, die sich z.B. im Mauser-Prozess den teils quälenden Fragen des Gerichts und der Anwälte gestellt haben, doch sollte niemand sich dem ohne Aussicht auf Erfolg stellen, nur um „der Sache“ zu dienen, auch wenn damit sicherlich ein Zeichen gesetzt würde. Es hilft auch, außerhalb der Gerichtssäle über das Thema zu sprechen, um Vorurteile abzubauen.
Wenn Du Selbsthilfegruppen kennst, würden wir uns über konkrete Hinweise freuen, die wir eventuell in einem zukünftigen Artikel erwähnen können.
Viele Grüße
Laura & Daniel
Ich meine, dass es keine Patentlösung für alle Situationen gibt. Vor allem gibt es keine schnelle Lösung.
Kennt Ihr den Song „Die Klavierlehrerin“ von Udo Lindenberg und das Musikvideo dazu? Die Situation wird quasi so dargestellt, als hätte der Junge Spaß gehabt und als ob er durch die Erfahrung erwachsen geworden wäre, die Situation stellt aber Kindesmissbrauch und sexuelle Grenzverletzung durch die Lehrerin dar. Und der Lehrerin ist vielleicht nicht mal bewußt, dass das Missbrauch ist.
Das Thema „Grenze“ ist in der Instrumentalpädagogik auch jenseits des Themas „sexueller Missbrauch“ wichtig. Gerade die Wald-und-Wiesen-Instrumentallehrer (die Bezeichnung ist nicht abwertend gemeint, sondern hier übertrieben benutzt, um zu verdeutlichen, wie alltäglich diese Fragestellung ist) haben mit diversen Schülern zu tun. Wer schon mal erwachsene Wiedereinsteiger nach dem Grund gefragt hat, warum sie damals als Kind den Unterricht abgebrochen haben, weiß, wie oft der Abbruch durch das Nähe-und-Distanz-Problem geschehen war.
Und hier geht es noch gar nicht um Missbrauch oder sexuelle Verhaltensweisen, sondern um ganz normale Probleme wie „wo sitzt der Lehrer beim Unterrichten“, „wie korrigiert der Lehrer die falschen Töne?“. Als Instrumentallehrer-Berufsanfänger weiß man nicht unbedingt, dass das für den Schüler so ein großes Problem sein kann, zumal der Musikstudent es selbst eher in seiner Ausbildung erlebt hat, dass der Schüler sich mit der Situation arrangieren muss (wer kennt den Spruch nicht: „So ist es nun mal, und wenn Du damit nicht klar kommst, bist Du zu sensiblel für den Musikerberuf.“)
Wichtig ist hier die Selbstreflexion. Man kann pauschal nicht sagen: „Halte mal 1 Meter Abstand zum Schüler, und dann ist es gut“. Der im Kontext der Debatte um sexuelle Belästigung häufig geäußerte Spruch „dann berühre ich den Schüler halt gar nicht mehr“ ist ein Ausdruck der eigenen Unsicherheit, das ist wie bei einem trockenen Alkoholiker, der entweder nur maßlos trinken oder total abstinent sein kann.
Ich bin diesbezüglich wohl überdurchschnittlich sensibilisiert, und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – sagen es mir vor allem erwachsene Schüler, wenn sie sich unwohl fühlen (z.B. „wenn Sie da sitzen, habe ich Sie in meinem Blickfeld, und dann werde ich nervös“) Wenn ich dann signalisiere, dass ich bereit bin, mich woanders zu setzen, wenn der Schüler also merkt, dass ich „zur Verhandlung“ bereit bin und dass sie mir nicht ausgeliefert sind, ist es dann meistens auch gut, ohne, dass ich meine Sitzposition ändern muss.
Wer über solche Dinge reflektiert hat, kann dies auch bei sich selbst besser wahrnehmen und auch beim eigenen Professor besser artikulieren. Bei meiner Abschlussprüfung saßen die Prüfer direkt hinter mir, natürlich war das unangenehm und einschüchternd. Ich nahm es so hin, weil ich dachte, dass ich damit klar kommen müsste, schließlich war es ja eine Prüfung. Es steht aber eigentlich in keiner Prüfungsordnung, dass die Prüfer unbedingt so sitzen müssten. Sie hätten genauso gut normaler sitzen können, wie das Publikum in einem Konzert. Auf die Idee, sie zu fragen, ob sie etwas weiter weg und vor mir sitzen könnten, war ich nicht gekommen. (Später, als ich woanders ein Prüfungskonzert zu begleiten hatte, sagte mir der Kandidat, dass er sich nicht gut fühlt, wenn Leute zu nah sitzen. Da habe ich ihm gesagt, dass wir ja die Stühle gleich etwas nach hinten schieben könnten – dass er diese Möglichkeit hat, war ihm bis dahin gar nicht klar.)
Das lässt sich dann auch auf sexuelle Grenzen übertragen. Studenten, die darüber reflektiert haben, wie sie ihre Schüler unterrichten möchten, sind nicht nur bessere Lehrer, sondern können auch Grenzverletzungen durch ihre Professoren besser als Grenzverletzungen wahrnehmen und frühzeitiger dagegen wehren. Dies gilt auch für Grenzverletzungen, die sie bei anderen Betroffenen beobachten.
Letztendlich besteht die „Hochschule“ aus Menschen, und auch die „Hochschulleitung“ ist ein Mensch mit seinen Lebenseinstellungen und mit seiner Haltung.
Zum Thema Polizei/Gleichstellungsbeauftragte:
Wenn man schon von der Polizei spricht, geht es um Straftaten.
Ich meine, dass Gleichstellungsbeauftragte die richtige Adresse ist, wenn es um Dinge geht wie Sexwitze, anzügliche Bemerkungen, sexistische Sprüche, Annäherungsversuche. Hier kann die Gleichstellungsbeauftrage darauf hinwirken, dass der Professor solche Verhaltensweisen abstellt, die Gleichstellungsbeauftrage kann auch ein Klärungsgespräch vermitteln.
Sobald aber Straftaten passiert sind, kann die Gleichstellungsbeauftragte eigentlich nicht viel eigenmächtig machen, zumal Disziplinarverfahren de facto auch vom Strafverfahren abhängt (das Disziplinarverfahren ruht während des Strafverfahrens).
Die Vereinbarungen, die eine Hochschule ohne Gericht erreichen kann, sind genau die Lösungen, die zu Problemen wie in München geführt haben. Der Täter wird einvernehmlich und stillschweigend weggefördert. Der Täter bleibt da, mit dem Versprechen zur Besserung, und das Opfer kommt in eine andere Klasse. Oder der Täter bleibt da, mit dem Versprechen zur Besserung, und das Opfer geht weg.
Ich verstehe die Sichtweise von Frau Hoffmann, ich verstehe auch, dass ein Prozess für das Opfer eine Belastung ist.
Ich würde Frau Hoffman auch zustimmen, wäre dieses Interview vor #metoo erschienen wäre. Denn sie beschreibt das Status Quo.
Aber ist #metoo nicht dazu da, dass es zu einer Bewußtseinsveränderung kommt? Ein Prozess ist für das Opfer auch deswegen belastend, weil das Opfer auch viel öffentliche Anfeindung erfährt – wenn dieses Klima sich ändert, hat #metoo viel erreicht.